Lieber Robert Habeck,
ich schreibe dir als inaktives Parteimitglied der Grünen, das dich als Vorbild sieht und deinen Wahlkampf finanziell unterstützt, obwohl meine Frau meint, ich könne es mir nicht leisten. Ich habe dich zwar nie getroffen, aber respektiere dich als politischen Menschen, als Führungskraft und als Autor. Ich schreibe dir diesen offenen Brief im Geiste radikaler Offenheit, weil ich mir Sorgen machen, ob es bei dieser Bundestagswahl für dich und unsere Partei zur politischen Mehrheit reicht. Viele politischen Beobachter würden es für ein Wunder halten, falls das passieren sollte. Ich nicht, denn ich habe genauso wie du die Zuversicht, dass es noch klappen kann. Ich hoffe, dass dieser Brief seinen Weg zu dir findet und nicht als arrogant oder überheblich bei dir ankommt. Ich könnte das, was du gerade schaffst, nämlich nicht.
Du trittst nach eigener Aussage an, um Kanzler für die Menschen in Deutschland zu werden und ich kann dir sagen: Viele wollen das – vielleicht noch mehr, als du für möglich hältst. Aber: Wenn ich das richtig einschätze, erfüllst du deinen eigenen Anspruch aktuell noch nicht. Sei unser Gast an dem bescheidenen Küchentisch meiner Familie in Frankfurt am Main und gib mir die Chance zu erklären, warum ich das denke und was ich glaube, was du unternehmen könntest, um deine Chancen auf das Kanzleramt noch weiter zu verbessern. Da du dafür aber wahrscheinlich keine Zeit haben wirst, ist hier mein Plädoyer in Kürze: Wage zusammen mit deinem Team noch mehr Risiken, als ihr es sowieso schon macht.
Um das vorweg klarzustellen: Du bist der politische Spitzenkandidat bei dieser Bundestagswahl 2025, der am regelmäßigsten zeigt, dass er das Zeug dazu hätte, dieses zunehmend gespaltene Land zu einen. Du zeigst es bei deinen öffentlichen Auftritten, indem du versuchst, sachlich zu differenzieren und für einen Interessensausgleich zu sorgen. Du zeigst es auch durch die Art, wie du dich als fehlbarer Mensch präsentierst und dich dabei sehr verletzlich und nahbar machst. Und du bist teils bescheiden und teils selbstironisch. Das schätze ich sehr an dir. Ich habe den Eindruck, ich könnte einfach ein anregendes Gespräch von Mensch zu Mensch mir dir führen: von einem begabten und sensiblen Mann zum anderen.
Aber leider bin ich nicht repräsentativ für die Mehrheit der Menschen in diesem Land, die du brauchen wirst, um zu regieren. Wie du bin ich ein Mensch, der gerne mit Büchern und schwierigen Wörtern jongliert – einfach, weil ich so sozialisiert wurde und mir das Denken und Schreiben Spaß macht. Ich denke oft gar nicht darüber nach, wie das auf andere wirkt. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen als jemand, der oft seine eigene Wirkung auf andere Menschen falsch einschätzt, habe ich die Sorge, dass du einige Wählergruppen mit deinem aktuellen Stil nicht erreichen wirst, obwohl du das als Politiker vielleicht könntest. Lass mich dir nur drei solcher Wählergruppen nennen.
Erstens: Menschen, die zwar gerne mit dir auf Augenhöhe sprechen würden, die du aber durch deine Wortwahl und deinen verschachtelten Satzbau mitten im Gedanken verlierst, weil sie nach einem langen Tag keine Zeit oder Energie haben, dir so gründlich zuzuhören wie ich. Und das Wichtige ist für mich: Es liegt nicht an ihrer mangelnden Intelligenz oder Bildung. Deswegen lautet mein erstes Plädoyer: Wage das Risiko, deine Sprache noch mehr zu variieren, um auch diejenigen zu erreichen, die wenig Zeit, wenig Geld oder wenig Geduld haben.
Zweitens: Menschen, die Selbstbewusstsein und Mut mehr schätzen als Welterklärung und Einordnung. Weißt du, was mutig wäre? Wenn du die Einladung zum TV-Duell mit Alice Weidel doch annehmen und dich dafür einsetzen würdest, dass auch Sarah Wagenknecht teilnehmen darf. Welche Wähler, die noch unentschlossen sind, wollen schon das TV-Duell mit den anderen beiden Herren sehen? Ganz ehrlich… Die zwei Powerfrauen und du – das ist viel spannender und würde dir die Bühne ermöglichen, die ein Kanzler verdient. Wenn ich dich richtig einschätze, hast du keine Angst vor einem Duell mit Alice Weidel. Du hast nur Angst, ihrer Partei eine Bühne zu bieten. Aber die hat sie dank des Internets sowieso schon. Dann doch lieber auf einer Bühne, wo du ihr etwas erwidern kannst! Und wo wir schon dabei sind, such auch gleich noch das öffentliche Gespräch mit Donald Trump und Elon Musk. Das große Risiko ist nicht der öffentliche Schlagabtausch mit dem Populismus und Extremismus, sondern die weitverbreitete Tendenz, ihn intellektuell zu unterschätzen, weil er anders redet als wir. Deswegen mein zweites Plädoyer: Scheue dich nicht, sie auf Augenhöhe zu konfrontieren und mit fairen Mitteln dort herauszufordern, wo es jeder sehen kann: nicht in Einzelinterviews, sondern im direkten Streitgespräch.
Drittens: Menschen, die nicht zu deinen Stammwählern gehören und deswegen deine Bescheidenheit und Selbstironie falsch einschätzen. Du erwähnst, wie schwer es dir fällt, Komplimente und Lob wegen deiner norddeutschen kulturellen Prägung anzunehmen. Fair enough, aber du läufst Gefahr, dass deine Fähigkeiten und deine Wirkung unterschätzt werden und dir dein Auftreten als mangelndes Selbstvertrauen ausgelegt wird. Wir sind hier leider nicht in Japan, wo man zwischen den Zeilen liest, sondern in einem der Länder der Welt, wo sehr direkt kommuniziert wird, weil sonst vieles nicht ankommt – jedenfalls nicht bei allen. Deswegen mein drittes Plädoyer: Riskiere es, manchmal noch direkter zu sein und dadurch andere zu verletzen – auch aus Respekt vor ihnen als mündigen Menschen.
Ich sehe die fast übermenschlichen Dinge, die deine Wahlkampfteams jeden Tag für dich in ganz Deutschland leisten, weil sie wie ich an dich glauben. Zum Beispiel, wie sie wegen des großen öffentlichen Interesses an deiner Person spontan die Jahrhunderthalle in Frankfurt am Main am 03.02.2025 gebucht haben, obwohl das ursprünglich wohl nicht geplant gewesen sein soll. Das ist die Geschwindigkeit, das ist die Ambition und das ist die Risikobereitschaft, die ich auch von einem wahren Kanzlerkandidaten in Deutschland erwarte. Ich freue mich darauf, dich in Frankfurt bei deiner Wahlkampfrede zu sehen: so mutig und selbstbewusst, wie du zu Recht sein könntest. Und auf eine von dir geführte Bundesregierung noch dieses Jahr.
Lieber Robert, nicht nur ich, sondern beinahe die ganze Partei vertraut deinen Fähigkeiten und du hast noch einen Monat Zeit. Leg Bescheidenheit nur dort an den Tag, wo Menschen, die dich lieben und verstehen, das für angemessen halten. Hab den Mut, dich öffentlich mit den kontroversesten Menschen der Welt auf Augenhöhe auszutauschen, egal, für wie gefährlich du sie hältst. Und vor allem: Experimentiere mit einer Sprache, die auch wirklich alle Menschen in Deutschland erreicht. Danke, dass du für dieses Land als Politiker so viel opferst und riskierst.
Hinweis: Ich bin in der Personalentwicklung der Lufthansa Group in Frankfurt beschäftigt. Dieser Beitrag drückt meine persönliche Meinung aus und nicht die Position meiner Partei oder die meines Arbeitgebers.